Ich bin - das Bewusstsein. Vergangen
Im Universum ist Zeit relativ, das weiß ich, das Bewusstsein genau. Auf der Erde läuft die Zeit linear, vorwärts. Die Menschen können die Vergangenheit und die Gegenwart gleichzeitig erleben, indem sie Vergangenes mit Körper und Geist festhalten.
Cassie sitzt mit ihrem Bruder Jonas beim Wein. Er ist etwas angetrunken und erzählt aus seiner Gruppentherapie, wo er mal wieder geweint hat. Immerhin ist er nicht weggelaufen, wie sonst. Die Anwesenden haben ihn akzeptiert und getröstet. Dafür schämt er sich jetzt. Wie immer seit dem Geburtstags-Desaster. Cassie weiß, was er meint. Sie war damals dabei und erinnert sich. Bei einer Geburtstagsfeier ihres Vaters – da war Jonas acht Jahre alt – hat ein Freund seines Vaters einen gemeinen Witz über ihn gemacht. Wie erwartet, fing der Junge an zu weinen. Normalerweise nahmen alle das hin, doch die Freunde seines Vaters verspotteten und demütigten ihn deswegen. Cassie sieht noch vor sich, wie die Mutter verstummte, der Vater erstarrte. Nur sie selbst mit ihren fünf Jahren ging zu Jonas und versuchte, ihn zu trösten. Doch er stieß sie zurück und lief weg. In den nächsten Jahren tat er alles, um seine Traurigkeit vor Anderen zu verstecken, und saß bei Familienfeiern unter dem Tisch.
Wenn die Geschwister nur wüssten, was ich weiß. Es ist eine große Leistung, dass Jonas die Traurigkeit in all den Jahrzehnten nicht unterdrückt, sondern weiter zugelassen hat.
„Du bist immer noch eine Heulsuse“, spinnt Cassie den Gedanken weiter. „Die haben es mit ihren Angriffen nicht geschafft, dich zu verbiegen und dir ihr blödes Ideal aufzudrücken. Das ist doch was.“
Jonas schaut das erste Mal auf. „Stimmt. Ich habe gewonnen. Allerdings bin ich ziemlich oft weggelaufen.“
„In der Gruppentherapie bist du geblieben“, widerspricht Cassie.
„Da ist es anders. In der Runde weine ich gerade mehr als sonst, denn die akzeptieren mich damit.“
Er weiß es nicht, aber die Gruppe hilft ihm bei der Verarbeitung des Geburtstags-Desasters. Das Gefühl von Scham und Demütigung, das er immer hat, wenn er traurig ist, verschwindet mit jeder positiven Erfahrung.
Die Geschwister fangen den Gedanken gleichzeitig auf. Sie wissen, dass sie gerade das Gleiche denken und sehen einander verschwörerisch an.
„Dann lernst du jetzt, dass es okay ist, traurig zu sein und zu weinen?“
„Ja, und nicht nur das. Es fällt mir immer schwerer, mich an das Geburtstags-Desaster zu erinnern.“
Er weiß, dass er keine Probleme mit seinem Gedächtnis hat. Die Erinnerung verblasst, weil die Begebenheit seine Bedeutung verliert. Sie ist nur noch eine Situation von vielen. Jonas hat einen großen Schritt auf dem Weg zur Heilung von seinem Burn-out getan.
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