Ich bin - das Bewusstsein. Kriegsangst

Im All explodieren Sterne. Auf der Erde brechen Vulkane aus. Es ist Anfang September, Polen wird angegriffen. Es wurde monatelang auf diplomatischer Ebene verhandelt – vergebens. Ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg erschreckt die Menschen in Europa. Frankreich und England greifen ein – gegen das von Nationalsozialisten regierte Deutschland. So begann 1939 der Krieg, in dessen Verlauf Millionen Menschen auf der ganzen Welt getötet, verletzt, vertrieben und traumatisiert wurden - und mit ihnen die nachfolgenden Generationen. Das sehe nicht nur ich, das Bewusstsein.
Professorin Cassie hält eine Vorlesung. Da heulen die Sirenen in Berlin. Hunderte Handys schrillen. Alle wissen, was das bedeutet. Am bundesweiten Warntag werden die Systeme für einen Katastrophenfall getestet. Trotzdem macht sich im Hörsaal Nervosität breit. Cassie kann es in den Gesichtern sehen und ihn ihrem eigenen Körper spüren. Sie will die Situation aufgreifen, aber sie weiß nicht wie. Mit einer Geschichtsstunde? Mit einer Diskussion über die aktuelle Lage? Das würde die verschiedenen politischen Lager in der Studentenschaft anheizen und zum Streit führen.
Wenn sie nur wüsste, was ich weiß. Der Angriff auf Polen und das Geräusch von Sirenen wurden als Stressauslöser von Generation zu Generation weitervererbt. Sie werden nicht nur durch Erzählungen und die Geschichtsbücher überliefert. Diese beiden Trigger sind in die DNA der Europäer eingeschrieben und haben seit über 80 Jahren kaum an Intensität eingebüßt. Man kann ihnen aber die Kraft nehmen. Cassie fängt meine Botschaft auf und ich erinnere sie an eine Methode aus einem Workshop.
„Ich möchte, dass Sie sich fünf Minuten Zeit nehmen, um zu reflektieren, was Sie gerade berührt. Schreiben Sie es auf“, fordert sie die 300 Menschen im Hörsaal auf. Cassie setzt sich auf ihren Stuhl und schreibt nur einen Satz. "Wir sind Opfer einer kognitiven Kriegsführung. Unsere Ängste werden von außen gelenkt." Nach fünf Minuten bittet sie die Anwesenden, sich mit der Person neben sich zusammenzutun. Jeder soll fünf Minuten über sein Thema reden, ohne unterbrochen zu werden. Dann wird gewechselt. Sie selbst tut sich mit einem 19-Jährigen zusammen, der keine Angst vor Krieg hat, weil er glaubt, dass es keinen geben kann. Gleichzeitig ist er aggressiv und will Andersdenkende mundtot machen. Cassie hört ihm ruhig zu. Sie spüren beide seine Angst, zum Opfer von Gewalt zu werden, sprechen es aber nicht aus. Anschließend spricht Cassie über ihre Befürchtungen, dass friedliche Menschen durch die Erinnerung an die Traumata ihrer Vorfahren eingeschüchtert werden. Dahinter erkennen sie die Angst, kontrolliert zu werden.
Als Cassie die Übung für alle beendet, sind die Anwesenden sehr nachdenklich. Es haben sich viele unterschiedliche Perspektiven, Gefühle und Wahrheiten gezeigt. Niemand beharrt gerade auf seiner Meinung. In diesem Moment sind alle Perspektiven erlaubt und werden respektiert. Für den Rest der Vorlesung herrscht im Hörsaal eine ungewöhnliche Stille und Gemeinschaft. Dies ist das größte Geschenk, das sie einander in einer beängstigenden Situation machen können.
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