Ich bin - das Bewusstsein. Denunzieren

Die Planeten bewegen sich in Kreisen und Ellipsen. Auf der Erde verläuft das Leben in Zyklen. Die Entwicklung der Menschen verläuft spiralförmig. Einzelne Situationen kehren wieder, bis man sie verstanden hat. Das weiß ich, das Bewusstsein, nur zu gut.
Cassies älterer Bruder Jonas ist wegen eines Burnouts in einer Tagesklinik und erzählt ihr abends, ohne Namen zu nennen, von den Problemen der anderen Patientinnen und Patienten. Cassie bittet ihn, von seinen eigenen Erfahrungen zu reden, aber das fällt ihm schwer. Es hilft ihm, über die Lösungsansätze der Anderen zu sprechen. Doch Cassie kann die Geschichten von fremden Menschen nicht ertragen. Sie wirft ihm vor, zu lästern. Er fühlt sich missverstanden und bevormundet. Sie streiten - mal wieder.
Wenn sie nur wüssten, was ich weiß. Cassies Wut überdeckt ihre Angst vor Denunziation. Sie hat es selbst nicht erlebt, weil sie in Westdeutschland der 1970-er Jahre aufgewachsen ist, aber sie hat als Kind eine Geschichte ihres Großvaters mitbekommen, die in der Nazi-Zeit passiert ist. Es ging um eine Nachbarsfamilie, über die geredet wurde. Kurz danach wurden sie verhaftet. Man hat sie nie wieder gesehen. Cassie erinnert sich nicht mehr an Opas Erzählung. Sie weiß nicht, dass sie in dieser Situation etwas gelernt hat, das seitdem ihr Wertesystem bestimmt. Nämlich, dass es gefährlich ist, wenn Menschen über Andere sprechen.
Jonas fängt meine Botschaft auf. „Erinnerst du dich an Opas Geschichte von den Nachbarn, die Verfolgten geholfen haben? Jemand hat sie denunziert und sie wurden verhaftet. Ich habe mich oft gefragt, ob er es war, der unbedacht über sie geredet hat. Ich meine, er war sehr redselig und die Autoritäten haben Menschen damals ohne Beweise abgeholt.“
„Du meinst, Opa hat sie ins Lager gebracht?“ Cassies Stimme ist tonlos. Sie spürt ein schweres Schuldgefühl, Selbstvorwürfe und Scham, die sie keiner eigenen Erfahrung zuordnen kann. Tatsächlich hat ihr Großvater sich so gefühlt, als er die Geschichte erzählt hat. Seitdem imitiert sie seine Körperhaltung und erzeugt damit seine Gefühle.
Cassie konzentriert sich auf ihre Atmung und fängt meine Botschaft auf. Sie sieht ihren Großvater auf dem Sofa sitzen, den Rücken gebeugt, mit zusammengezogener Stirn und geballten Fäusten. Sie bemerkt diese Haltung auch bei sich selbst. In ihrem Körper zeigt sich ein Abdruck seines Schuldgefühls. Sie schüttelt sich. Als sie wieder in ihrer eigenen Körperhaltung ist, erkennt sie, dass Jonas' Erklärung auch falsch sein kann. Sie wissen nicht, was ihr Großvater getan hat und wofür er sich schuldig fühlt. Sie werden es auch nicht erfahren. Was sie kennen, ist die Körperhaltung des Großvaters, die Cassie nun ablegen will.
Jonas bemerkt die Veränderung bei seiner Schwester. Er erzählt wieder aus der Gruppentherapie. Cassie erkennt, dass den Menschen nichts passieren wird, wenn Jonas über sie spricht. Die Geschichten sind bei den Geschwistern sicher. Sie sind froh, in einer Zeit zu leben, in der Taten und Bekenntnisse nicht gegen die Menschen benutzt werden.
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