Ich bin - das Bewusstsein. Blinde Wut

Asteroiden schlagen mit zerstörerischer Kraft auf Planeten ein. Gorillas kämpfen gewaltsam um ihre Reviere. Auch Menschen haben Instinkte, die stärker sind als ihre Erziehung. Das sehe ich, das Bewusstsein, ständig.

Cassie geht nach der Arbeit die Straße „Unter den Linden“ entlang. Es ist eine alte mehrspurige Prachtstraße mit acht Meter breiten Bürgersteigen, die voller Menschen sind. Von weitem sieht sie einen jungen Mann, der wahllos Passanten anspricht. Er wirkt wie unter Drogen. Die Vorbeigehenden machen einen Bogen um ihn. Das macht ihn zunehmend wütend. Er sieht Cassie aus zehn Meter Entfernung. Sie hat genug Menschenkenntnis, um zu erkennen, dass er sie als nächstes Opfer ausgesucht hat. Eine Mitfünfzigerin mit hochgebundenen, grauen Haaren, College-Schuhen, einem leichten Mantel und einer Büchertasche über der schmalen Schulter. Sie hält den Atem an, geht ruhig und gemessenen Schrittes weiter. Als Professorin hat sie viel mit jungen Erwachsenen zu tun. Sie überlegt, wie sie mit ihm ins Gespräch gehen könnte. Ihre Aufmerksamkeit ist ganz im Außen, sie spürt den zunehmenden Druck in ihrem Oberbauch nicht. Im Näherkommen erkennt sie an seinen fahrigen Bewegungen, dass er nicht Herr seiner Sinne ist. Also will sie kommentarlos an ihm vorbeigehen. Da geht er auf sie zu und wirft ihr Beleidigungen entgegen.

Wenn sie nur sehen könnte, was ich sehe. Mit seiner bedrohlichen, beleidigenden Art löst der Mann eine ganz alte Wut in ihr aus. Das Grollen in ihrem Oberbauch kündigt es an, aber Cassie merkt es nicht, weil sie nicht atmet. Sie nimmt den Mann nicht mehr wahr. Die ganze Umgebung verschwindet. Ihr Kontakt zu sich selbst bricht ab. Nichts in ihr kann die Aggression jetzt noch bremsen. Ihr Verstand verliert jeglichen Einfluss, der Körper übernimmt das Regiment. Sie bewegt sich hoch aufgerichtet wie eine Kobra vorwärts. Ihre Stimme ist laut und scharf. Sie zischt ihm ein drohendes „Verschwinde!“ zu.

Der Mann weicht erstaunt zurück und hastet davon. Sofort kommt Cassie wieder zur Besinnung. Sie weiß im ersten Moment nicht, was gerade passiert ist, dann fängt sie wieder an zu atmen und wird wieder präsent. Sie erschrickt über ihren Ausbruch und über sich selbst. So furchtlos und unbedacht hat sie sich noch nie erlebt. Normalerweise reagiert sie mit Flucht oder Beschwichtigung auf brenzlige Situationen. Doch das hätte bei diesem unter Drogen stehenden Mann nicht funktioniert. Ihr Instinkt hat eine Wut produziert, die Cassie von ihren gelernten Mustern getrennt und in den Angriffsmodus versetzt hat.

Cassie steht immer noch wie angewurzelt da, staunt über ihre eigene Kraft und Bedrohlichkeit. Eine Frau lächelt ihr im Vorbeigehen dankbar zu, zwei junge Mädchen nicken aufmunternd. Ein Mann geht eingeschüchtert an ihr vorbei. Sie bemerkt ihr verkrampftes Gesicht und ihre angespannte Körperhaltung. Die braucht sie jetzt nicht mehr. Sie atmet tief durch, geht weiter und ihr Körper entspannt sich wieder.

Doch der Wutausbruch hallt noch lange in ihr nach. Sie hat eine große Kraft in sich entdeckt. Allerdings will Cassie die nur in Ausnahmesituationen nutzen. Denn der Preis, den Kontakt zu sich und damit die Kontrolle zu verlieren, ist ihr zu hoch.

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