Wessen Erinnerung ist das?
Wer Geschwister oder Freunde aus Kindertagen hat, kennt das. Man erzählt von einem Erlebnis aus der Kindheit und die Schwester sagt plötzlich: Das war doch ich!
Neulich ging es um ein Geschenk. Jede war überzeugt, dass sie das bunte Nachthemd bekommen hat. Wir fragten unsere Eltern, aber die konnten sich nicht einmal an dieses tolle Kinder-Nachthemd erinnern. Uns hingegen hat es so beeindruckt, dass wir es beide geschenkt bekommen haben wollen. Wir konnten uns genau daran erinnern. Wie kann das sein?
Wenn man bedenkt, wie Erinnerungen entstehen, macht das Sinn. Ereignisse werden mit den dazugehörigen Sinneseindrücken und Gefühlen gekoppelt und ins Gedächtnis geschoben. Bei einem Geschenk können das viele Emotionen sein. Aufregung, Freude oder der Neid auf die andere. Wir können nicht kontrollieren, was für ein Paket da geschnürt wird, denn das macht unser System selbständig und ohne zu fragen. Seitdem ich das weiß, sehe ich meine Erinnerungen nicht mehr als Tatsachen an. Ich betrachte sie eher als Vorschläge.
Wenn mein Gedächtnis bei meinen eigenen Erinnerungen schon so ungenau ist, was ist dann mit den Erinnerungen von anderen? Wie habe ich die Erzählungen von Kriegsgeschichten meiner Eltern und Großeltern abgespeichert? Können die sich genauso real anfühlen, wie das geschenkte Nachthemd? Ich glaube ja, denn ich habe es erlebt.
Ich spiele leidenschaftlich gern Golf. Vor einem Spiel tun sich Gruppen von bis zu vier Spieler*innen zusammen. Man startet, sobald die Gruppe vor einem weit genug weg ist. Denn niemand soll einen Ball an den Kopf bekommen. Wenn die vor einem langsamer sind, muss man mal warten. Wenn man selbst zurückfällt, muss man sich beeilen.
Als Anfängerin fühlte ich mich natürlich gehetzt von den Gruppen hinter mir. Damals war ich langsam und unsicher. Mit den Jahren wurde ich besser und spielte schneller, doch das Gefühl, gehetzt zu werden, ließ nicht nach. Oft fühlte ich mich geradezu bedrängt.
Im Frühjahr war eine Gruppe von drei Männern hinter uns. Sie waren genauso schnell wie wir, hielten respektvoll Abstand, aber ich hatte nicht nur Angst, sondern einen Fluchtreflex ihretwegen. Ich hätte am liebsten aufgehört, doch ich stellte mich erstmals diesen Gefühlen und beobachtete mich. Ich hatte den Impuls, mich zu ducken. Wir müssen hier weg. Die dürfen uns nicht erwischen, sagte mein Gefühl. Wir müssen uns beeilen, aber ganz leise.
Wir spielten auf einer idyllischen Bahn an einem Waldrand, doch ich schlich mit eingezogenem Kopf über den gepflegten Rasen. Immer wieder sah ich mich nach den Männern um. Sie waren gute 250 Meter entfernt. Dann plötzlich rutschte ich in eine Phantasie.
Ich sah mich und andere in einem kleinen Haus in einem Wald. Gefährliche Männer kamen auf die Lichtung und wir huschten zur Hintertür hinaus. Leise, geduckt, unbemerkt flüchteten wir in den Wald. Ich war irritiert. Wie kam ich jetzt auf solche Filmszenen? Da erinnerte ich mich an eine Geschichte, die in meiner Familie erzählt wurde. Meine Großmutter hatte während des Krieges einige Zeit mit ihren fünf Kindern, darunter meine achtjährige Mutter, auf dem Land in Sachsen gelebt. Dann haben sie sich zurück nach Bremen durchgeschlagen. Auf dieser Reise gab es einige kritische Momente, sie haben es aber heil geschafft.
Die Geschichten meiner Mutter und ihrer Geschwister deckten sich nicht mit meiner Phantasie, aber das Gefühl von Flüchten passte. Als mir das auf dem Golfplatz bewusst wurde, war ich schlagartig erleichtert. Die Gruppe hinter uns hatte nichts Erschreckendes mehr.
Seit diesem Tag macht es mir nichts mehr aus, wenn eine Männergruppe hinter uns spielt. Ich fühle mich nicht mehr gehetzt oder bedrängt. Denn diese Erinnerung war nicht meine und sie hat keine Macht mehr über mich.
Kennst du solche Erfahrungen? Schreib es in die Kommentare.
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