Wütend auf meinen Schrank

Normalerweise ignoriere ich unseren Wohnzimmerschrank. Doch für die Renovierung mussten wir ihn leerräumen und von der Wand ziehen. Als er da in der Mitte des Zimmers stand, hätte ich am liebsten dagegen getreten.

Ich grolle ihm, weil ich mir beim Aufbau 2006 eine schwere Venenverletzung unter dem Schlüsselbein zugezogen habe.

Natürlich ist das nicht die Schuld des Schranks. Er hat sich zwar beim Aufbauen gewehrt, aber letztlich war ich es, die mit Gewalt an der Rückwand gedrückt und geschoben hat, bis die Vene angerissen ist.

Widerwillig hole ich meinen Putzeimer und wasche die Regalböden aus. Holzpflege habe ich nicht. Wasser und trockenes Nachwischen sind noch zu gut für diesen Schrank. Als ich mich in das zweite Regal beuge, läuft an der Rückwand ein Tropfen herunter. Es sieht aus, wie eine Träne. Ich erschrecke. Ist er etwa traurig? Okay, ich behandele ihn nicht gut, aber er hat mir diese Verletzung zugefügt. Ach nein, das war ich ja selbst.

Ich wische den Wassertropfen ab und blinzele eine Träne weg. Der Schrank und ich haben eine seltsame Beziehung. 14 Jahre lang habe ich ihn, so gut es ging, ignoriert. Oberflächlich abgestaubt, nur auf Bücher und Dekoration geachtet.

Bei genauerem Hinsehen sieht er immer noch wie neu aus. Innen hat er einige Schmarren abbekommen. So, wie ich auch. Plötzlich schmerzt es unter meinem Schlüsselbein. Will dieser Schmerz mir etwas sagen?

Dieser Schrank und ich sind verbunden. Besser gesagt, ich habe mich mit ihm verbunden. Ich habe meine Gefühle, meinen Groll, meine Traurigkeit und meinen Schmerz über diese Verletzung an ihm festgemacht. Seitdem behandele ich ihn wie Luft oder mit Verachtung, aber rausschmeißen kann ich ihn nicht. Er ist ein Teil von mir, genau wie meine längst ausgeheilte Verletzung.

Diese Einsicht stimmt mich milder. Ich will meine Verbindung zu dem Schrank neu gestalten und räume ihn etwas bewusster wieder ein. Er bewahrt viele meiner Dinge auf, hilft mir Ordnung zu halten und mein Wohnzimmer zu strukturieren. Außerdem sieht er gut aus und passt da gut in die Ecke. Das hat mir immer schon gefallen.

Vermutlich hat er es nicht verdient, so schlecht behandelt zu werden, aber ich kann ihm nicht vergeben. Denn ich kann mir selbst nicht vergeben. Das ist okay. Manche Dinge brauchen eben länger. Aber ich sehe eine Chance, mich mit dem Schrank und meiner Verletzung auszusöhnen. Das ist doch ein Anfang.

Gibt es einen Gegenstand, auf den du deine Gefühle projizierst? Schreib es gern in die Kommentare.

Zurück

Deine Anmerkung zu diesem Beitrag?

Hinweis:  Nimm dir aus diesem Blog mit, was du gebrauchen kannst. Gib hinein, was dir wichtig ist, aber achte bitte darauf, dass Respekt, Sicherheit und Freundlichkeit alles zusammenhalten.

 

Datenschutzhinweis:
Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert. Selbstverständlich werden deine Daten nicht für Werbezwecke genutzt oder an Dritte weiter gegeben. Für weitere Informationen zum Datenschutz klicke bitte hier.