Bist du dankbar genug?
Dankbarkeit ist in. Zu Recht, denn es ist ein erhebendes Gefühl. Doch es hat eine Schattenseite.
Eine Freundin hat mich gefragt, ob ich etwas schreiben könne für die Frauen, die klaglos ihre Mütter pflegen und sich dabei völlig aufgeben. Tatsächlich ist mir da auch etwas aufgefallen. Es wirkt, als würden die Frauen es aus freien Stücken tun, aber so ganz freiwillig stellen sie ihre eigenen Bedürfnisse nicht zurück.
Altenpflege ist ein schwerer Job. Noch anstrengender wird es, wenn Angehörige oder die eigenen Eltern gepflegt werden müssen. Zu den körperlichen Strapazen (die Pflegenden sind meist keine 20 mehr, sondern um die 50) kommt der emotionale Stress. Die Eltern-Kind-Muster wirken nämlich das ganze Leben lang – wenn man sie nicht bewusst überwindet.
Ganz häufig zum Beispiel löst der Satz „Du bist undankbar“ bei vielen reflexhaft ein schlechtes Gewissen aus. Dabei ist nicht mal klar, ob die Pflegebedürftigen das wirklich so meinen oder ob sie es sagen, weil sie vor vielen Jahren den gleichen Spruch gehört und darauf reagiert haben.
Die wenigsten Töchter scheuen in diesem Fall die klare Auseinandersetzung und fragen: „Hältst du mich wirklich für undankbar?“ Stattdessen stehen sie noch früher auf, vernachlässigen ihren Job oder verringern die Familienzeit, um bloß nicht undankbar genannt zu werden.
Dabei sind diese Frauen gar nicht undankbar und wissen es auch, aber hier setzt die Vernunft aus. Sie wollen alles tun, um nicht in den Verdacht zu geraten.
Doch wie zeigt sich Dankbarkeit? In der kompletten Selbstaufgabe? In flötenden Stimmen, falschen Dankesreden und selbstgebackenen Plätzchen?
Dankbarkeit ist in den Weltreligionen eine Tugend. Es ist ein schönes Gefühl. Es stellt sich von allein ein und verbindet diejenige, die etwas gegeben hat mit derjenigen, die etwas empfangen hat. Beide profitieren davon, beide fühlen sich besser. Das funktioniert auch bei immateriellen Dingen, wie der Dankbarkeit für das Leben selbst, die Natur oder einen schönen Moment.
Doch das ist es nicht, was in diesem Eltern-Kind-Muster passiert. Hier ist die Forderung nach Dankbarkeit ein Machtinstrument. In diesem Zusammenhang habe ich das Wort „Dankesschuld“ kennengelernt. Es ist das unschöne, verpflichtende Gefühl, eine frühere Hilfe ausgleichen oder vergelten zu müssen. Es führt zu einem Ungleichgewicht in den Beziehungen, kann sie beschädigen oder ganz zerstören.
Die Dankesschuld bringt Menschen in einen inneren Widerspruch. Die gute Nachricht ist, Widersprüche können aufgelöst werden.
Der erste Schritt ist es, sie aufzudecken. Da können gute Freunde helfen.
Der zweite Schritt ist es, sie anzuerkennen, das muss die Betroffene selbst leisten. Sie muss sich klar werden, ob sie aus Dankbarkeit hilft und dabei Freude empfindet, oder ob sie sich verpflichtet fühlt und sich immer weiter von sich selbst und der Pflegebedürftigen entfernt.
Der dritte Schritt ist, die Situation zu sehen, wie sie wirklich ist. Zu sagen: Ja, ich fühle mich verpflichtet. Ich handle aus einem inneren Zwang heraus. Und ich erkenne jetzt, dass ich in einer Dankesschuld gefangen bin.
Der vierte Schritt führt aus der Verpflichtung heraus und die Frau kann auf den Vorwurf antworten: „Nein, ich bin nicht undankbar. Im Gegenteil, ich bin dankbar dafür, dass du mir das Leben geschenkt und mich großgezogen hast, und jetzt pflege ich dieses Geschenk und mache mit meiner Familie einen Ausflug.“
Wer weiß, wie es in dieser Beziehung weitergeht. Vielleicht kann richtige Dankbarkeit entstehen, die die Beteiligten einander wieder näher bringt.
Hast du Erfahrungen mit Dankesschuld? Schreib es in die Kommentare.
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