Aufstellungszene

Die Mitglieder der Gruppe stellten sich reihum vor und formulierten ihre Wünsche und Ziele für das Wochenende. Alle wollten sich besser verstehen und alte Familienkonflikte lösen. Nadine musste schmunzeln, als sie das hörte. Sie sprach als Letzte und übernahm das Ziel von Marianne: „Ich möchte weniger Angst haben.“ Das stimmte und war unverfänglich.
Manuel ergriff das Wort. „Viele Menschen nehmen den irritierenden Einfluss ihrer Ahnen, ihrer Großeltern und Urgroßeltern auf ihr eigenes Leben deutlich wahr. Das zeigt sich zum Beispiel in unerklärlichen Gefühlen oder irrationalen Handlungsmustern, die man nicht abstellen kann. In der systemischen Familienaufstellung können wir Muster und Konflikte aufdecken, im Idealfall sogar lösen. Unser Ziel ist es, die Beziehungsnetze eurer Familien darzustellen, die Konflikte der Vorfahren zu erkennen und zu erfahren, ob sie auf euch wirken. Interessant sind die Verwandten, die verschwiegen oder verheimlicht wurden – uneheliche oder weggegebene Kinder, Kriegsopfer, Nazi-Täter, aber auch diejenigen, die jung gegangen sind und eine Lücke in die Ahnenlinie gerissen haben. Wir wollen sie alle wahrnehmen und integrieren, damit das Familiensystem sich ordnen kann.“
Viele der Teilnehmer hatten bereits eine Aufstellung besucht, aber Nadine verstand es nicht.
„Wie funktioniert das mit den verstorbenen Ahnen? Wir können sie doch nicht mehr fragen?“
Manuel lächelte sie an. „Warte ab, folge dem Prozess, du wirst es rasch verstehen. Wer möchte beginnen?“
Marianne ergriff das Wort: „Ich bin so nervös, darf ich als Erste?“
Alle nickten ihr aufmunternd zu.
„Ich habe Streit mit meinem Mann und meinen erwachsenen Söhnen. Im letzten Jahr ist es eskaliert, wir wären uns fast an die Gurgel gegangen. Vor einem Monat habe ich sie verlassen und bin hierher gezogen. Ich möchte diesen Konflikt lösen.“
Sie schoben die Stühle beiseite, um den Raum wie eine Theaterbühne oder ein Spielfeld zu nutzen. Marianne agierte wie eine Regisseurin, vergab die Rollen ihrer Familienmitglieder an die Seminarteilnehmer und platzierte sie im Raum.
Nadine ging oft ins Theater und fand Mariannes Personenanordnung unangenehm. Die Stellvertreter der Eltern standen denen von Marianne und ihrem Mann gegenüber, als wären sie eine feindliche Armee. Manuel, der als Leiter außerhalb stand, bewertete nicht, sondern erfragte die Wahrnehmung jedes Einzelnen. Die Stellvertreter sahen sich auf dem Feld um, beschrieben ihre Positionen und Nadine folgerte für sich, dass die Eltern hart, ja feindselig zu Marianne waren – und die zwangsläufig in der Defensive.
Nadine war nicht gebeten worden, ein Familienmitglied zu spielen. Sie schaute gebannt von außen zu. Mariannes Familienstück kam ihr sinnvoll und schlüssig vor, sie vergaß ihr drängendes Bedürfnis, eine Zigarette zu rauchen.
Als eine weitere Figur gebraucht wurde, saßen mehrere Seminarteilnehmer am Rand des Feldes, doch Marianne fragte Nadine: „Würdest du Stellvertreterin für meine Urgroßmutter Elisabeth sein?“
„Ich kann das nicht, ich bin zum ersten Mal dabei“, flüsterte Nadine nervös.
„Willst du oder willst du nicht?“, ignorierte Marianne Nadines Einwände.
„Ich will“, sagte Nadine spontan.
Marianne schob sie auf das Feld, an den anderen Figuren vorbei. Schlagartig änderte sich Nadines Stimmung. Neugier und Nervosität verblassten, irritiert blickte sie sich um, sie hatte das ganze Feld im Blick, doch sie konnte die Anderen nicht sehen. Nadine fühlte sich wie eine Schauspielerin, sie war sich ihrer Selbst bewusst, ließ die Gefühle von Elisabeth geschehen und erkannte: Elisabeth war blind. Schlagartig verstand Nadine den Part, den sie spielte, ohne dass Marianne oder Manuel ihr etwas erklären mussten. Sie fand sich mit Elisabeths Blindheit ab, bis Claas, der Elisabeths Ehemann Hans spielte, das Feld betrat. Plötzlich konnte Nadine sehen, allerdings nur ihn, – alles andere blieb verschwommen. Sie fühlte Wut, Trauer und Eifersucht in sich aufwallen, sie sah Jacques‘ schöne Geliebte kurz vor ihrem inneren Auge, dann konzentrierte sie sich wieder auf Mariannes Familie.
„Nadine, wie geht es dir als Elisabeth?“, riss Manuel sie aus ihrer Rolle.
„Sie ist blind für alles um sie herum. Sie sieht nur ihn!“ Nadine zeigte auf Elisabeths Ehemann.
„Mir geht es ähnlich, ich sehe nichts auf dem Feld, sondern mein Blick geht nach draußen“, fügte Claas als Hans hinzu.
Marianne stellte noch eine Frau ins Feld – eine Verflossene von Hans. Nadine fühlte sich plötzlich schwach, sie musste sich setzen.
Sie hörte, wie Manuel mit Claas-Hans arbeitete und konnte wieder aufstehen, war aber immer noch blind für ihre Familie.
Manuel bat die Eheleute, sich einander gegenüberzustellen.
Nadine-Elisabeth und Claas-Hans sahen einander in die Augen. Nadine wurde überwältigt von Elisabeths Gefühlen, sie weinte unkontrolliert, am liebsten hätte sie Claas-Hans umklammert, aber Manuel erlaubte es nicht.
„Du bist meine Frau“, sprach Claas-Hans Manuels Formel nach. „Und ich bin dein Mann.“
Nadines Tränen verebbten. Dann war sie an der Reihe: „Du bist mein Mann und ich bin deine Frau.“
Plötzlich verschmolzen ihre Blicke, sie erlebten einen Moment von Harmonie. Die beiden seufzten und umarmten einander.
Das ganze Feld kam in Bewegung. Nadine konnte es nicht sehen, weil Claas‘ Brust ihr die Sicht versperrte, aber sie spürte, wie eine Welle der Erleichterung sich ausbreitete.
Nadine wusste, dass Claas‘ lange, innige Umarmung nicht ihr galt, aber sie genoss sie. Sie hatte schon lange keine aufrichtige, zweckfreie Zuneigung mehr erlebt, aber sie schob die Sehnsucht beiseite, um Mariannes Feld nicht zu beeinflussen.
Als Nadine-Elisabeth sich von Claas-Hans löste, konnte sie ihre Kinder, ihre Enkel und Urenkel sehen. Jeder Einzelne erfüllte sie mit Liebe und Stolz, sodass sie am liebsten herumgelaufen und jeden von ihnen an sich gedrückt hätte.
Manuel stellte Nadine-Elisabeth ihrer Tochter, Mariannes Großmutter gegenüber, sie sahen einander in die Augen. Nadine-Elisabeth floss über vor Zärtlichkeit und Liebe, es warf Nadine fast um.
Manuel ließ das schöne Gefühl von Generation zu Generation weitergeben. Als es bei Marianne Stellvertreterin angekommen war, durfte Marianne selbst auf das Feld, um die Liebe zu spüren. Sie sah plötzlich anders auf ihren Mann und ihre Söhne, sie umarmte deren Stellvertreter, weinte vor Glück, während Nadine stolz zusah.
Manuel beendete die Aufstellung, jeder legte seine Rolle ab und sie diskutierten das gerade Erlebte.
„Ich freue mich für Marianne, so viel Frieden und Harmonie kenne ich aus meiner eigenen Familie nicht“, sagte Nadine auf der Terrasse.
Manuel sagte laut hörbar für alle: „Dies war nicht Mariannes erste Aufstellung, aber heute konnte man gut sehen, wie ihr System sich geordnet hat. Das geht nicht immer so schnell.“
„Ich kenne Rollenspiele aus dem Coaching, aber ich mag es nicht, neue Verhaltensweisen einzuüben, weil die nicht meiner Natur entsprechen“, mischte Claas sich ein.
„Dies hier ist etwas Anderes“, sinnierte Nadine. „Ich glaube, die distanzierte Perspektive, die nicht vom Klienten beeinflusst werden kann, macht den Reiz aus. Wir haben keine alltäglichen Konflikte, Befindlichkeiten und Probleme besprochen, sondern es ging um die tiefen Gefühle in den Beziehungen.“
„Was?“, fragte Claas irritiert.
„Das trifft es gut“, sagte Manuel lächelnd. „Ich wusste, dass dir die Methode liegen würde, deshalb wollte ich zu Anfang nicht viel erklären.“
Claas schüttelte den Kopf: „Ich glaube nicht, dass wir meine Familie aufstellen können, denn ich kenne meine Großeltern und Urgroßeltern nicht.“
„Marianne kannte ihre Urgroßeltern auch nicht. Dieser Konflikt ist erst in dem Feld entstanden“, erklärte Manuel ernsthaft.
„Wie soll das gehen?“, fragte Claas.
„Du warst es, der es mit Nadine zusammen kreiert hat“, gab Manuel zurück.
Claas sah Nadine hilfesuchend an: „Wie haben wir das gemacht? Haben wir uns das ausgedacht?“
„Ich hatte das Gefühl, Elisabeth wäre blind und du hast gesagt, Hans würde aus dem Feld hinausschauen …“
„Woher wusste ich das?“ Claas runzelte die Stirn. „Ich wusste es nicht, – auf dem Feld war für mich nichts zu sehen, mein Blick ist von allein hinausgewandert. – Das ist gruselig! Als die neue Frau da stand, fühlte ich mich traurig und verlassen, als hätte ich sie verloren.“
„Wir zählen eins und eins zusammen“, hakte Manuel ein. „Wir gehen davon aus, dass Marianne die Gefühle der vorigen Generationen kennt und sie durch die Anordnung im Raum aufleben lässt.“
„Gibt es dafür eine wissenschaftliche Erklärung?“, fragte Claas misstrauisch.
„Nein. Möglicherweise handelt es sich um eine Art kollektives, überzeitliches Bewusstsein, an das wir alle angeschlossen sind.“
Nadine lächelte selig: „Wie bei den Borg.“
„Bei wem?“, fragte Manuel verwundert.
„Menschenskinder, das ist Kulturgeschichte, Star Trek, Raumschiff Enterprise, das müsst ihr doch kennen!“
„Das müssen wir nicht kennen, aber es klingt interessant“, sagte Gaby augenzwinkernd.
„So weit wie die Borg sind wir nicht, aber der Anfang ist gemacht“, sagte Carsten, ein fünfzigjähriger Sachse mit starkem Akzent. Er hob die Hand neben das Gesicht und bildete mit den Fingern ein V zwischen Mittel- und Ringfinger, – das Grußzeichen der Vulkanier, die seit den 1960er-Jahren das Star Trek-Universum beeinflussten.
Nadine erwiderte den Gruß, glücklich, endlich Gleichgesinnte gefunden zu haben.

Aus: „Familienaufstellung oder Ewig Streit mit den Lieben“ Alexandra Kusche © 2015, Kindle E-Book - ASIN: B013CS7YTQ

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