Achtsam sein trotz vieler Reize?

Es ist leicht, sich ablenken zu lassen, aber ich probiere immer wieder, präsent zu sein. Im Beitrag „Wo ist mein Ich-bin?“ kannst du meine ersten Versuche nachlesen.

Achtsamkeit ist eine Voraussetzung, um präsent zu sein. Es gibt eine Übung, in der man eine Rosine betrachtet, ihre Struktur ansieht, fühlt, riecht und schließlich kostet. An sich ist das leicht und macht Spaß, aber es dauert relativ lange. Wenn eine einzelne Rosine schon so viel Zeit erfordert, wie lange brauche ich dann für all die Dinge in meinem Alltag? Ich lebe in der Großstadt und bin vielen, schnell wechselnden Reizen ausgesetzt. Das mag ich an diesem Leben. Die Schnelligkeit und Abwechslung machen mir Spaß.

Ich mag aber auch die Achtsamkeit. Nur, wie soll ich mich auf die neuen Graffitis an der Wand hinter dem Waggon-Fenster einlassen, wenn die S-Bahn nach zehn Sekunden wieder losfährt? Muss ich mich auf Dinge konzentrieren, die so lange in meinem Blickfeld sind wie die Rosine? Soll ich die Stadt ausblenden, um mich auf einen einzigen Impuls zu konzentrieren?

Um achtsam zu sein, soll man beobachten. Es gibt eine Meditationsübung, in der man Gedanken wie Wolken vorbei ziehen lässt. Man nimmt sie wahr und lässt sie wieder gehen. Das fällt mir leichter. Die fröhliche Plakatwerbung im S-Bahnhof wird abgelöst von den Bäumen, die vor dem Fenster vorbeiziehen. Dieses beständige Grün beruhigt mich. Eine Durchsage kündigt den nächsten Bahnhof an, aber ich bleibe in der Entspannung, die mir der Grunewald geschenkt hat. Sogar als wir anhalten und Fahrgäste aus- und einsteigen.

Ich beobachte die Passagiere auf dem Bahnsteig, aber die vielen Reize führen bei mir zu einer inneren Anspannung. Ich bin nicht gut darin, mehrere Dinge gleichzeitig zu beobachten, aber es gibt auch dazu eine schöne Übung. Ziel ist es, den eigenen Körper wahrzunehmen. Nicht nur ein Körperteil oder den Atem, sondern den ganzen Körper – gleichzeitig! Das geht auch während einer S-Bahn-Fahrt. Meine Füße auf dem Boden zu spüren, meine kalten Knöchel in den Ballerinas, meinen Hintern auf dem Plastikbezug des Sitzes, meine Hände auf dem Laptop, meine Augen, die das Grün des Grunewalds scannen. Die Gespräche der anderen Fahrgäste als reine Geräusche zu hören, ohne die Inhalte zu erfassen. Dazu noch zu atmen und die Gefühle wahrzunehmen, die sich ohne ersichtlichen Grund einschleichen.

Hier wird es spannend. Woher kommt plötzlich diese Traurigkeit? Während dieser Übung ist die Frage nicht wichtig. Sie würde mich aus der Achtsamkeit reißen. Ich nehme die Traurigkeit einfach wahr, so wie die Sonne, die durch die Bäume bricht. Alles bekommt Raum in der Beobachtung. Nur die Überlegungen, Interpretationen und Schlussfolgerungen nicht.

Das entspannende Grün des Grunewalds schleicht in meine Aufmerksamkeit und die Traurigkeit verschwindet. Es ist für alle Eindrücke Platz, wenn ich sie nicht festhalte. Innere und äußere Wahrnehmungen zeigen sich eine nach der anderen. Es gibt kein Gedränge, nichts kommt zu kurz. Alles darf aufscheinen und wieder verschwinden. In diesem genüsslichen Zustand stört mich nichts. Keine Gefühle, keine Geräusche, nicht der kalte Luftzug, nicht mal meine kribbelnde Nase.

Die Ansage kündigt meinen Zielbahnhof an. Zeit, zusammenzupacken und auszusteigen. Das Gefühl der Achtsamkeit nehme ich mit in meinen Alltag. Zumindest, wenn ich daran denke.

Wie geht es dir mit der Achtsamkeit? Schreib es in die Kommentare.

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Kommentare

Kommentar von Christine |

Ich lebe in keiner Großstadt, die Ablenkung von außen hält sich in Grenzen. Wenn ich jetzt abends draußen sitze, bin ich sozusagen ganz alleine - die Nachbarn hocken vor dem Fernseher und der Garten mit seinen Bäumen gehört mir alleine. Da ist es leicht, achtsam zu sein. Aber bei mir kommt die Ablenkung auch von innen: meine Gedanken....Im Alltag hilft es mir, wenn ich die Dinge, die ich sehe (im Geist) benenne. Und nach einer Zeit braucht es das Benennen nicht mehr, dann habe ich mich daran gewöhnt, wahrzunehmen.

Antwort von Alexandra Kusche

Liebe Christine,

das mit dem Benennen ist ein gute Übung. Die kannte ich nicht. Vielen Dank dafür.

Viele Grüße

Alexandra

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